EvL: Herr Engels, kürzlich feierten Sie Ihren 200. Geburtstag. Alles Gute Nachträglich. Gestatten Sie mir die Frage nach Ihrem Befinden.
F.E.: Wissen Sie, vor einigen Jahrzehnten machte sich ob der Unvernunft der Menschen viel Müdigkeit in mir breit. Es gibt so viele Dinge, die aktuell der Verbesserung bedürften. Wo soll ich da beginnen?
EvL: Beginnen wir mit dem was die Leser wohl am direktesten Betrifft, die aktuelle Krise in Deutschland, da durch die Pandemie ja eine schwere Wirtschaftskrise zu drohen scheint.
F.E.: Im Manifest schrieben Karl und ich: „Die Bourgeoisie hat in der Geschichte eine höchst revolutionäre Rolle gespielt. Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose »bare Zahlung«.“ Sehen Sie, wir wissen alle, dass „die Krise“ im System verankert ist. Ständig ist irgendwo wegen irgendetwas eine Krise. Die interessierten Kreise nutzen diesen Vorwand um zusätzliches Kapital – aktuell in Form von Steuergeldern – zu akkumulieren, will sagen: Der Vorwand der Krise wird genutzt um den Reichtum der Bourgeoisie zu mehren. Oder um Karl nochmals zu zitieren: „Gewinne werden privatisiert – Verluste werden sozialisiert!“ Und real betrachtet – ein großer Teil der Konzerne, die jetzt Milliarden einstreichen, sind in einigen Monaten wieder bei den alten Gewinnen, diejenigen die Leiden, der kleine Laden- oder Restaurantbesitzer, gehen doch wieder weitgehend leer aus.
EvL: Erst letzte Woche las ich in einem Magazin einen Kommentar, dass es heutzutage ganz nach Ihrem Sinne wäre, wenn sich in Deutschland nach den nächsten Bundestagswahlen eine schwarz-grüne Mehrheit bilden würde. (1)
F. E.: (Lacht) Da hat mich aber jemand gründlich missverstanden. Das ehedem „revolutionäre“ an der Bewegung der Grünen existiert doch längst nicht mehr. Das Thema Umwelt ist so dringend geworden, dass es sich quasi von selbst versteht, dies auch programmatisch zu berück-sichtigen. Da noch von revolutionären Ideen zu reden ist Unsinn. Dies dann noch mit der Verbindung zu einer bürgerlichen Systemkritik, mit Verlaub – das ist geradezu Absurd. Wir, also Karl und Ich, haben ja wohl deutlich zum Ausdruck gebracht, dass gerade die Bourgeoisie, es also die Bürgerlichen sind, die vom System am meisten profitieren. Nein, dass solche Dinge behauptet werden zeigt nur, dass man sich meines Namens und des Anlasses bedient, um überhaupt in einigen Druckerzeugnissen seinen Namen wiederzufinden.
EvL: Das ist wohl wahr. Aber was wären Ihre Rezepte heute? Die Bourgeoisie sitzt scheinbar so fest im Sattel, wie damals zu Ihrer Zeit die Monarchen.
F.E.: Das ist wohl wahr, und hat heute noch mehr finanzielle Mittel als die Aristokratie zu meiner Zeit und durch den ganzen technischen Kram außerdem noch die perfide Macht, der Meinungsmanipulation und Kontrolle. Schau Dir doch nur an, wie es Snowden, Assange oder Mannings ergeht. Trotzdem haben die drei genannten recht. Man muss dem System den Spiegel vorhalten, immer wieder. Nur so kann das Bewusstsein der Bevölkerung aktiviert werden. Und dazu Pazifismus! Pazifismus ist in dieser Waffenstarrenden Zeit unerlässlich. Sehen Sie sich Gandhi an.
EvL: Aber die Friedensbewegung hat doch stark an Einfluss verloren.
F.E.: Weil man sie instrumentalisiert hat, als ihr politischer Arm in den Parlamenten saß. Kaum an der Macht, wollten die Vertreter nichts mehr von den Idealen der Basis wissen, inzwischen befürwortet ja sogar die Vorsitzende mehr Kapital für die Armee (2). Und die Sozialdemokratie? Die ließ es schon 1914 zu, dass Arbeiter auf Arbeiter schießen mussten, im Interesse des Kapitals. Oder die Atomraketen und -Bomben in Deutschland, nur als Beispiel.
EvL: Das Kapital….
F.E.: (unterbricht sofort) gehört heute noch in jedem gut sortierten Bücherschrank. Schauen Sie sich die Verhältnisse an. Seit unserer Zeit ist es noch viel schlimmer geworden. Vier Dutzend Personen beherrschen die Hälfte des weltweit vorhandenen Kapitals! Stellen Sie sich diese ungeheure Machtfülle vor. Und auf der anderen Seite? Selbst in so reichen Ländern wie Deutschland leben 16 % unter der Armutsgrenze, gemessen an der Familiengröße müssen 6,5 Millionen Menschen in viel zu kleinen Wohnungen leben (3)(4). Glauben Sie mir, wenn Karl und ich heute noch auf dieser Erde lebten, hätte „Das Kapital“ nicht nur drei Bände.
EvL: Wie sollen wir das verstehen?
F.E.: Es gäbe heute noch so viel zu ergänzen. Aber wichtig ist erst einmal, das vorhandene zu lesen, das gelesene zu verstehen und das verstandene dann umzusetzen. Und unter den heutigen Philosophen sind ja auch einige kluge Köpfe vorhanden. Und um an ein Zitat von Karl angelehnt zu schließen: wir haben die Welt beschrieben, ihr müsst sie verändern.
(3) https://www.tagesschau.de/inland/armustrisiko-deutschland-gestiegen-101.html
(4) https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2020/11/PD20_N079_634.html