Joachim Schaefer (hessencam) im Interview

Joachim Schaefer (60) arbeitet als Pastoralreferent in der kath. Domgemeinde Wetzlar und leitet seit 2011 das Jugendmedienprojekt „hessencam“. Aufgrund seines Engagements „gegen rechts“ wurde seine Familie 2010 Opfer eines rechtsextremen Brandanschlags. Vier Neonazis wurden zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Dennoch fehlt Schaefer auf keiner rechtsextremen Demo und hält die Aufmärsche, Reden und Zusammenhänge stets mit seiner Kamera fest.

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Du bist der „Mann hinter dem Videoprojekt hessencam“ wie die WNZ kürzlich titelte. Das ist sicher zutreffend. Fass uns doch mal bitte kurz zusammen, was Du bzw. Ihr macht und wie es dazu kam?

Bis 2011 gab es das „Jugendnetz Wetzlar“, eine Medienwerkstatt für Jugendliche im Wetzlarer Stadtteil Westend. Weil sich aber Hans-Jürgen Irmer (CDU) und Boris Rupp (ehemals REP-, dann CDU-, später FWG- und heute FDP-Mitglied) sich bei der Bistumsleitung beschwert hatten, wurde das Projekt auf Anordnung von Bischof Tebartz-van-Elst verboten. Mir wurde ein politisches Redeverbot erteilt.

Dann kam 2012 der Hessentag nach Wetzlar. Mit knapp 30 Jugendlichen dokumentierten wir die zahlreichen Aktionen. Hier entstand der Name „hessencam“. Ein Jahr später musste Tebartz-van-Elst zurücktreten, sodass ich wieder mehr Freiheiten bekam.

hessencam ist nicht nur eine Plattform gegen rechts. Im Mittelpunkt unserer Bemühungen steht die Förderung der Demokratie, bzw. das gesellschaftliche Miteinander auf der Grundlage der Menschenrechte. Dazu gehört es auch die Knackpunkte und Fehlformen zu thematisieren oder zu problematisieren.
Die Inklusion, d.h. das gemeinsame Tun und der Austausch der verschiedenen Begabungen trotz unterschiedlicher Sozialisationen ist eines unserer wichtigsten Kriterien und unterstreicht unser Anliegen einer weltoffenen und vielfältigen Gesellschaft. Gleichzeitig möchten wir mit unseren Filmen auch neue Räume oder Türen öffnen: Heimat anbieten und neue Heimat schaffen.

Die Dokumentation und Förderung von zivilgesellschaftlichem Engagement liegt uns besonders am Herzen. Ob durch das Filmen von Demonstrationen, politischer Aktionen oder die Planung eigener Aktionen, im Vordergrund steht das Anliegen, die Facetten einer funktionierenden demokratischen Gesellschaft zu präsentieren und zu fördern. Unsere Beiträge stehen nicht nur für sich selbst. Sie eigenen sich auf Grund ihrer Aktualität oft als Themenimpuls im Schulunterricht. Wir versuchen mit unserem Projekt Demokratie und kreative Beteiligung von Jugendlichen zu fördern, gleichzeitig aber auch ein kritisches Zeichen gegen Intoleranz und Rechtsextremismus zu setzen. Die Themen Diskriminierung, Heimatverlust und Fremdenfeindlichkeit sind Querschnittsthemen, die uns in unterschiedlichen Zusammenhängen begegnen.

Der Blick in die Vergangenheit ist ein „Markenzeichen“ von hessencam. Gedenkaktionen und das Pflegen einer Erinnerungskultur sind uns wichtig.

Mein persönlicher Anspruch ist es, den Unterdrückten und Benachteiligten eine Stimme zu geben und Sprachrohr für sie zu sein.

Und dabei bist Du nicht nur außerordentlich fleißig – immerhin sind bereits knapp 4700 Videos entstanden – sondern auch erfolgreich, über 7,5 Millionen Klicks sprechen eine eindeutige Sprache.

Jemand hat uns mal mit dem Fernsehkanal Phoenix verglichen, der die Bundestagsdebatten ungekürzt und unkommentiert sendet. Wir hauen viel raus – auch mal unkommentiert. Das ist nicht unbedenklich, weil wir extremen Meinungen eine Plattform bieten. Oft fehlt uns einfach die Zeit, Beiträge einzuordnen.

Aber dieses Engagement birgt natürlich auch Gefahren. Warst Du dir dessen anfangs bewusst? Und wie gehst Du damit heute um? 

Es gibt so Phasen. Vor 7 Jahren als hier gefühlt alle vier Wochen eine Neonazi-Demo stattfand, da ist man besonders sensibel. Man guckt sich häufiger mal um, ob man abends auf dem Nachhause weg verfolgt wird. Zurzeit ist wieder eine Radikalisierung zu beobachten. Einschüchterungsversuche mehren sich gerade. Das sind Zeiten, in denen man sich fragt, ob man mehr Feind:innen als Freund:innen hat.

Darüber hinaus vermeide ich es, Jugendliche in die direkte Konfrontation mit den Rechten hineinzuziehen, denn das Filmen ist schon auch gefährlich.

Ich hoffe, dass dieses Corona-Thema jetzt langsam abebbt. Man darf auch nicht vergessen, dass die Anti-Corona Gott sei Dank nur von einer kleinen Minderheit gefüttert wird. Mit den Geflüchteten aus der Ukraine stehen andere Probleme auf der Tagesordnung, die mehr Beachtung verdient haben.

hessencam wühlt nicht nur im Negativen rum, sondern hat ein Auge für positive Entwicklungen in der Gesellschaft. Wir haben z.B. vor 2 Jahren ein tolles Projekt mit unseren europäischen Partnerstädten gemacht. Dazu reisten wir Schladming, Pisék und Avignon. Dort befragten wir junge Menschen zum Thema Europa. Gerade porträtieren wir zwei junge Ukrainerinnen, die seit zwei Wochen in Wetzlar wohnen. Das Projekt „Zeitzeugen“ hat uns im letzten Jahr sehr beschäftigt. Menschen, die vor dem zweiten Weltkrieg geboren sind, standen vor unserer Kamera.
Leider finden diese Dokumentationen zu wenig Interesse. Es ist schade, dass gerade die arbeitsintensive journalistische und bildungspolitische Arbeit zu wenig honoriert wird.

Besondere Anfeindungen gibt es seit jeher auch aus dem Lager der CDU-Lahn-Dill. So bezeichnete Dich der Kreisvorsitzende, Hans-Jürgen Irmer, mehrfach als „Linksextremisten“ und versuchte auch bei Deinen Vorgesetzten Druck zu machen. Sind eigentlich christliche Werte wie „Nächstenliebe“ und „Respekt“ in der CDU-Lahn-Dill Fremdworte?

Wenn Herr Irmer mich als „rotlackierten Faschisten“ beleidigt, dann fällt das in die christliche Kategorie der Sünde.
Nächstenliebe ist ein sehr hoher Anspruch, dem ich selbst oft nicht immer nachkomme. Von der CDU habe ich das vielleicht in meiner Kindheit erwartet, weil ich die Bedeutung des Parteinamens ernst nahm. Heute erwarte ich von der CDU nicht selbstverständlich christliches Engagement. Ich bin eher überrascht, wenn ich in der CDU Menschen begegne, die sich z.B. für Geflüchtete oder Menschenrechte engagieren. Ähnlich geht es mir aber auch bei manchen Vertreter:innen der SPD, die dem Namen ihrer Partei nicht gerecht werden.

In den letzten Wochen und Monaten hat sich Dein Fokus besonders auf die Dokumentation der lokalen Querdenken-Bewegung verlagert? Wie schätzt Du diese hier ein?

Meine persönliche Einschätzung ist Folgende: rund 50% der Querdenker*innen sind „PEGIDA-Leute“, damit meine ich Menschen, die von einer starken Unzufriedenheit, einem latenten Rassismus und einem immensen Sozialneid getrieben werden. Persönliche Verlusterfahrungen, Unzufriedenheit mit dem Staat sind zentrale Motive. Über Jahre waren sie politisch eher passiv. Ähnliche „Ventil-Phänomene“ konnte ich in der deutschen „GelbWesten- Bewegung vor ca. drei Jahren beobachten.

Ca. 30% würde ich als Esoteriker:innen und religiöse Fundamentalisten bezeichnen. Die Krisenerfahrung bestätigt sie in den vielfältigen Endzeitfantasien und Verschwörungsideologien. Rund 20% sind meiner Meinung nach Rechtsradikale, von denen ich die Hälfte gar als rechtsextrem, gefährlich und gewaltbereit einstufen würde, die ganz stark versuchen diese Krise für sich auszunutzen. 

Was fast allen gemein ist, ist der Wunsch, dass der Staat „den Karren vor die Wand fährt“. Es herrscht eine eigenartige Schadenfreude über Misserfolge des eigenen Landes. Diese Denkweise, die mir völlig fremd ist, macht mir tatsächlich Angst, weil sie die parlamentarische Demokratie in Frage stellt. Hier setzt meine Kritik an. Am versuchten Reichstagssturm waren nur wenige aktiv beteiligt, aber ein großer Teil der Szene hat die Aktivist:innen gefeiert. In vielen Telegram-Gruppen sind die Umsturzfantasien zu finden.

Das kann man nicht so stehen lassen und muss es sichtbar machen.

Wie man in vielen Deiner Videos sieht, wirst Du bei Deiner Tätigkeit nicht selten angepöbelt, bedrängt und teilweise auch körperlich angegangen. Was würdest Du dir hier von Polizei, Versammlungsbehörde oder auch „der Politik“ wünschen?

Mein kindlicher Wunsch wäre, dass ich beschützt werde. Und das fehlt. In vielen kritischen Momenten ist schlicht keine Polizei da. Oft bekomme ich dann auch noch von der Polizei den Vorwurf, dass ich provozieren würde. So nach dem Motto, sobald der Schaefer kommt, gibt’s Ärger.

Das sind öffentliche Veranstaltungen, die ich dokumentiere. Die Polizei muss offensiv die Pressefreiheit schützen und Angreifer:innen abweisen. Oft habe ich das Gefühl, dass man nicht nur die Querdenker*innen nervt, sondern auch die Polizei. Und das muss wirklich nicht sein, weil die Polizei damit auch meine Arbeit als Journalist einschränkt und stört. Es gibt dort so viele demokratiefeindliche Reden, von denen niemand etwas mitbekommen würde. Es gibt leider große Defizite beim Schutz von Journalismus und Pressefreiheit im Rahmen dieser Veranstaltungen und da muss sich dringend was ändern!

Neben Deinen Drehs organisierst Du auch selbst unzählige Veranstaltungen mit: Von Protesten gegen das Parkhaus am Dom, über Fridays for Future, zum Frauentag oder Pflegenotstand. Aber die schweigende Mehrheit der Wetzlarer*innen lässt sich nur schwer auf die Straße mobilisieren: Frustriert Dich das und was ist Dein Appell?

Ich muss zugeben: Ich habe von den Querdenker*innen sogar gelernt. Ich kann besser nachfühlen, wie schnell man zum „Wutbürger“ wird, wenn der Respekt vor den Parlamentarier:innen und den Regierenden verloren geht. Ich kenne diese Ohnmacht, dieses Gefühl der Ungerechtigkeit, welches ja auch für mich selbst oft die Triebfeder ist, Problemfelder sichtbar zu machen. Was mir immer wieder klar wird: Es fehlen Plattformen um Bürger*innen früh in Entscheidungsprozesse einzubinden. Es geht nicht um das Zufriedenstellen irgendwelcher Einzelinteressen, wenn z.B. grüne Oasen in einer Stadt zerstört werden, Geflüchtete abgeschoben werden oder Hans-Jürgen Irmer den Islam diffamiert. Es sind Beispiele für die lokale Umsetzung lebensrelevanter Herausforderugen. Hier muss sich die parlamentarische Demokratie auch Kritik gefallen lassen und alles dafür tun, dass Parlament und Zivilgesellschaft nicht auseinandertriften.

Und genau aus diesem Grund haben wir damals in Dalheim die erste Stadtteilkonferenz gegründet und dort alle Vereine, Initiativen und Verbände an einen Tisch gebracht. Dieses Format hat die Stadt Wetzlar dann später für andere Stadtteile übernommen.

Wir erleben jetzt aktuell in der Ukraine-Hilfe, dass es so viele fitte, kompetente und kreative Leute gibt, die sich vielfältig engagieren. Hier wäre die Stadt klug beraten, die Menschen an einen Tisch zu bringen, um bestmöglich zu koordinieren und Hilfe nicht ins „Leere“ laufen zu lassen. Leider sind die Behörden oft zu engstirnig und lassen die Chance auf wirkliche Beteiligung links liegen.

Man merkt: Du bist ein hoch politischer Mensch und brennst mit jeder Faser Deines Körpers für das was Du tust. Hast Du jemals mit dem Gedanken gespielt auch mal selbst in die Politik zu gehen statt „nur“ von außen zu „meckern“?

Klar, die Frage stand und steht immer im Raum. Und natürlich habe ich auch schon mal überlegt bei den LINKEN Mitglied zu werden, weil ich dort vielen engagierten Menschenrechtler:innen begegnet bin. Mein Problem ist, dass ich schnell anecke, wenn es um Kompromisse geht. Diese Freiheit will ich mir aber auch nicht nehmen lassen. Bei NGOs wie Attac, Seebrücke oder auch Amnesty International ist das einfacher, weil sich das Engagement nur auf bestimmte Fragen zuspitzt. In einer Partei muss ich das ganze Paket akzeptieren. Das fällt mir oft schwer.

Wir danken Joachim für seine Zeit und sein Engagement! Viel Erfolg und starke Nerven weiterhin!